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Review

PRIF Jahresbericht 2024Ein „freies Recht zum Krieg“ – das es so nie gab

Ausgezeichnete Buchveröffentlichung

Ein „freies Recht zum Krieg“ – das es so nie gab

Gemälde der Beratungen auf dem Wiener Kongress, 1815. Diplomaten versammeln sich um einen Tisch, auf dem eine große Landkarte liegt. An der Wand zwei allegorische Gemälde.

Bild: Rijksmuseum, Wikimedia Commons, CC0 1.0

In seinem Buch „A Century of Anarchy?“ räumt Hendrik Simon nicht nur mit einer weit verbreiteten Schwarz-Weiß-Denke, sondern auch mit einem fest etablierten Mythos auf. Um die Antwort auf die titelgebende Frage des über 400 Seiten umfassenden Werks vorwegzunehmen: Ein „freies Recht zum Krieg“, das dann im 20. Jahrhundert von einer völkerrechtlichen Ordnung mit Gewaltverbot abgelöst wurde, hat es im 19. Jahrhundert nicht gegeben.

In Lehrbüchern zur Geschichte der internationalen Beziehungen oder des Völkerrechts, aber auch in Materialien zur politischen Bildung oder Dokumentarfilmen findet sich immer wieder dieselbe These: Die moderne Weltordnung wurde im 20. Jahrhundert geboren, als im Lichte der Erfahrung der beiden Weltkriege das völkerrechtliche Kriegsverbot normiert wurde. Zuvor, so die Vorstellung, war Krieg ein legitimes politisches Mittel, das souveräne Staaten einsetzen konnten, wie es ihnen passte. Das 19. Jahrhundert war also, in Bezug auf die Entscheidung für oder gegen Krieg, ein Jahrhundert der Anarchie. Doch stimmt diese Annahme wirklich?

Hendrik Simon machte es sich in seinem Buch zur Aufgabe, diese conventional wisdom zu überprüfen: Woher kommt die Vorstellung des „freien Rechts zum Krieg“ – und lässt sie sich überhaupt belegen?

Ich habe mich, als ich das erste Mal auf die These vom freien Recht zum Krieg gestoßen bin, gefragt: Wieso macht sich eigent­lich niemand die Mühe, diese These mal zu überprüfen und zu schauen: Stimmt das denn eigentlich?

Hendrik Simon, PRIF Talk 009

Dieser gängigen Meinung nach gab es eine „alte“ völkerrechtliche Ordnung vor 1920 – die Ära der Anarchie – und eine „neue“ Ordnung, die im Rahmen einer radikalen Transformation im 20. Jahrhundert entstand: Erst mit der Gründung des Völkerbundes, dem Kellogg-Briand-Pakt und schließlich der UN-Charta nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Krieg als politisches Instrument geächtet und ein allgemeines Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen eingeführt. Diese Vorstellung ist dermaßen omnipräsent, dass die Fußnote mit Nachweisen ihrer Verbreitung in Simons Buch eine ganze Seite füllt.

Um die These des „freien Rechts zum Krieg“ auf den Prüfstand zu stellen, stützt sich Hendrik Simon auf die Analyse von historischen Kriegsdiskursen, insbesondere Rechtfertigungen von Kriegen und deren Beurteilungen. An solchen Rechtfertigungen und daran, wie sie von anderen Staaten, Institutionen oder auch nationalen Öffentlichkeiten akzeptiert wurden oder nicht, lässt sich erkennen, was zu einer gewissen Zeit als Norm galt, also beispielsweise wann und unter welchen Umständen Krieg als legitimes Mittel galt.

Tatsächlich, so argumentiert Simon, war Krieg durch die Geschichte hindurch begründungspflichtig. Und das gilt auch für das 19. Jahrhundert. Kein einziger Staat reklamierte auf der internationalen Bühne ein „freies Recht zum Krieg“ für sich, selbst wenn so mancher Monarch, wie etwa Wilhelm II., nur wenig für völkerrechtliche Normen übrig gehabt haben mag. Schlüsselbegriffe, die für den modernen Kriegsdiskurs prägend sind, wurden bereits in der Zeit der Französischen Revolution entwickelt, so beispielsweise die Idee der Nation oder der Volkssouveränität.

Buchcover
Infobox

Über das Buch

„A Century of Anarchy? War, Normativity, and the Birth of Modern International Order” basiert auf Hendrik Simons Dissertation und ist 2024 bei Oxford University Press erschienen. Für das Buch wurde der Autor 2024 mit dem Jost-Delbrück Preis, der durch das Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht (WSI) an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel verliehen wird, und 2025 mit dem Helmuth-James-von-Moltke-Preis der Deutschen Gesellschaft für Wehrrecht und Humanitäres Völkerrecht (DGWHV) ausgezeichnet. Das Buch ist als Open-Access-Publikation auf der Seite des Verlags verfügbar. „A Century of Anarchy?“ ist im Rahmen des PRIF-Projekts „Kriegslegitimationen und Weltordnungskonzepte von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“ entstanden, das gemeinsam von Hendrik Simon und Lothar Brock geleitet wird.

Auch die Institutionalisierung des Kriegsverbots reicht deutlich weiter zurück als in die 1920er Jahre. Mit dem Wiener Kongress, der von 1814 bis 1815 tagte, entstand das Europäische Konzert der Großmächte, das von nun an die Autorität besaß, Krieg zu beurteilen. Internationale Gewalt galt in dieser Zeit nur dann als gerechtfertigt, wenn das Mächtekonzert sie autorisierte oder sie für legitim befand. Es herrschte also keine Anarchie in der Entscheidung für oder wider Krieg. Vielmehr begann das moderne Kriegsverbot sich bereits herauszubilden, auch wenn es damals noch nicht in einem völkerrechtlichen Vertrag als solches festgehalten wurde.

Dieses Kriegsverbot wurde dann im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer weiter ausdifferenziert. Beispielsweise etablierte sich, dass ein Krieg nur gerechtfertigt sein konnte, wenn zuvor diplomatische Mittel zur Konfliktbeilegung angestrengt wurden.

Diese Befriedung in Europa durch das Recht hatte aber auch ihre Schattenseiten. Der Großmächtefrieden ging mit Zwang gegen kleinere Mächte und Unterdrückung von nationalen und liberalen Bewegungen einher. Und er wurde überhaupt erst durch Kolonialismus und Imperialismus ermöglicht, also mit Gewalt gegen Menschen außerhalb Europas erkauft.

Das 19. Jahrhundert war kein anarchisches Gegenstück zur modernen internationalen Ordnung, sondern es war tatsächlich die Ära ihrer Geburt.

Hendrik Simon, PRIF Talk 009

Wie konnte das Narrativ vom „freien Recht zum Krieg“ aber dennoch so wirkmächtig werden? Die These geht, so Simon, auf militärnahe Rechtsgelehrte im Deutschen Kaiserreich zurück, die aus politischen Gründen dafür argumentierten, dass Krieg eine „natürliche Realität“ sei und souveräne Staaten das „Recht des Stärkeren“ durchsetzen dürfen – ein Narrativ, das zentral für die Denkschule des Realismus ist. Diese Meinung wurde allerdings von Juristen anderer europäischer Länder nicht geteilt und stellte vielmehr einen deutschen Sonderweg dar. Im Dritten Reich wurde die Vorstellung von NS-Juristen wie Carl Schmitt und Wilhelm Grewe aufgegriffen und weiter verfestigt.

Zwischen und nach den Weltkriegen wurde die Mindermeinung, dass im 19. Jahrhundert ein „freies Recht zum Krieg“ geherrscht habe, in der Geschichtsschreibung des modernen Völkerrechts schließlich als vermeintliche Tatsache universalisiert – und zwar nicht nur von Autoren, die dem Realismus zuzurechnen sind, sondern erstaunlicherweise auch von liberalen Juristen. Letztere hatten ein Interesse daran, die völkerrechtlichen Errungenschaften seit 1920 als besonders progressiv darzustellen. Die Vorstellung des 19. Jahrhunderts als „Jahrhundert der Anarchie“ half, den Kontrast besonders deutlich erscheinen zu lassen.

Letztlich führt das zu dem Ergebnis, dass sich paradoxerweise bis heute zwei Denkrichtungen, die ja eigentlich völlig konträr zueinander sind, also Realismus und Liberalismus, jedenfalls in der Frage für oder wider Krieg, sich in derselben aus meiner Sicht klar falschen Lehrmeinung begegnen.

Hendrik Simon, PRIF Talk 009

Insgesamt verdeutlicht das Buch eindrücklich die lange Geschichte des völkerrechtlichen Gewaltverbots und der regelbasierten internationalen Ordnung. In diesem Sinne attestieren Rezensent*innen dem Buch, „unverzichtbar für jede Beschäftigung mit der Frage nach der Legitimation von Kriegen“ zu sein (Hubert Zimmermann, Politische Vierteljahresschrift) und „zweifellos ein Bezugspunkt für die Debatten über die intellektuellen Quellen und blinden Flecken der Disziplin der internationalen Beziehungen zu werden“ (Eric Sangar, Perspectives on Politics). Indem Simon mit lange für selbstverständlich gehaltenen Annahmen aufräumt, erinnert er seine Leser*innen daran, kritisch im Umgang mit historischen Narrativen zu bleiben und jenseits konventioneller Muster und Schwarz-Weiß-Erklärungen zu denken. (lfr/ewa)

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