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Review

PRIF Jahresbericht 2022Ordnung schaffen im Chaos eines Bürgerkriegs

Dissertation ausgezeichnet

Ordnung schaffen im Chaos eines Bürgerkriegs

Männer verkaufen Eier vor zwei Bussen, die mit Säcken und Pappe gefüllt sind.
Foto: © picture alliance / REUTERS | MUZAFFAR SALMAN.

“Let’s fight each other another day.” How armed opposition groups managed challenges to cooperation and postponed conflict in Syria’s multiparty civil war (2012-2019) – für ihre Dissertation wurde Regine Schwab 2022 mit dem Christiane-Rajewsky-Preis ausgezeichnet.

Über 1000 verschiedene Rebellengruppierungen kämpften im syrischen Bürgerkrieg gegen die Regierung und oft auch gegeneinander. Eine auf den ersten Blick kaum zu durchdringende, chaotische und hochgradig gewalttätige Situation. Sieben Jahre lang Krieg und Gewalt: ein anarchischer Kampf aller gegen alle?

So beschrieb die Bürgerkriegsliteratur noch vor wenigen Jahren Multiakteursbürgerkriege wie in Syrien. Meist wurden die Gewalt und der Kampf um Ressourcen der Rebellengruppen gegeneinander überbetont und ihnen wurde jede ideologische Zielsetzung abgesprochen. Man ging davon aus, dass ein Konflikt umso gewalttätiger wird, desto mehr Gruppen beteiligt sind. Ein anderer Zweig der Fachliteratur identifizierte zwar rudimentäre Kooperationsformen zwischen einzelnen Gruppen, aber nur militärische und kurzfristige. Dieses Szenario des gewalttätigen Chaos wurde durch die Wissenschaft transportiert und von den Medien übernommen.

Analysetools entwickeln

Regine Schwab schien dieses Bild zu einfach. War es nicht wahrscheinlicher, dass die Rebellengruppen in den von ihnen besetzten Gebieten zumindest Ansätze von Struktur und Ordnung errichteten, dass es zwischen benachbarten Rebellengruppen Zusammenarbeit und Beziehungen gab, wenn auch vielleicht in sehr loser Form? In Handel, Rechtsprechung, im Gesundheitswesen oder wo auch immer? Und musste es nicht möglich sein, hier Muster zu erkennen und Kategorisierungen festzulegen, die auch auf Bürgerkriege anderer Länder anwendbar wären? Wenn diese Vermutung stimmen sollte, dann müsste es möglich sein, Tools zu entwickeln, mit denen sich analysieren ließe, welcher Art die Beziehungen sind. So könnte man herausfinden, wie diese Beziehungen entstehen, wann sie stabil sind und wann sie scheitern. Regine Schwab hatte ihr Forschungsthema für die nächsten Jahre gefunden. Sie fokussierte sich zunächst auf den Bürgerkrieg in Syrien, lernte Arabisch. Sie analysierte Hunderte von Sekundär- und Primärdokumenten, bereiste für ihre Feldforschung die Grenzregion zwischen Syrien und der Türkei und führte zahllose Interviews mit Mitgliedern und Anführern von einflussreichen Rebellengruppen, zivilen Aktivist*innen, Angehörigen der lokalen Oppositions-Verwaltungen, humanitären Helfer*innen, Justizpersonal sowie mit sunnitischen Geistlichen in der Türkei und in Syrien.

Organisation des täglichen Lebens

Für ihre empirische vergleichend-analytische Studie setzte sie zwar ihren Schwerpunkt auf den syrischen Bürgerkrieg, nahm aber auch andere Konflikte und Kooperationen zwischen bewaffneten Gruppen aus anderen Teilen der Welt in den Blick. Schnell stieß sie nicht nur auf langfristige militärische Kooperationen, etwa gemeinsame Kommandozentralen, sondern auch auf weitere Zusammenarbeit im Governance-Bereich. Eroberte Gebiete mussten verwaltet und regiert werden, Gerichte wurden zusammen mit zivilen Akteuren gegründet, lokale Verwaltungsstrukturen geschaffen. Selbst in Nordwestsyrien, wo über die Jahre der ehemalige Al-Qaida Ableger Jabhat al-Nusra (Hayat Tahrir al-Sham) immer dominanter wurde, fand durchaus Zusammenarbeit mit anderen Gruppen statt, wurde das gemeinsame Ziel, der Kampf gegen die Regierung, weiterverfolgt. Natürlich gab es auch immer wieder gewalttätige Auseinandersetzungen um Kontrolle und Macht. Diese wurden in der Regel jedoch durch lokale und religiöse Mediationspraktiken schnell beigelegt.

Eine wichtige erste Erkenntnis ihres Forschungsprojekts, die mittlerweile auch in der Fachliteratur (wieder) angekommen ist, zeigte, dass diese Gruppierungen durchaus ideologische Ziele haben, die ihre Handlungen bestimmen und lenken. Für die Bearbeitung und das Verstehen eines Konflikts sollten diese Ziele unbedingt ernst genommen werden, auch wenn sie „von außen“ vielleicht vorgeschoben oder auch absurd anmuten.

Vielfältige Beziehungen

Eine nächste Frage, die für internationale Friedensbemühungen, aber auch für die lokale Bevölkerung höchst relevant ist, war die Frage nach der Einschätzung und Beurteilung der Beziehungen der jeweiligen Rebellengruppen zueinander. Zu einer ersten Kategorisierung identifizierte Regine Schwab drei Arten von Kooperation, die sich auch auf andere Konflikte übertragen lassen und noch ergänzt werden können: Die räumliche Dimension von Kooperation, also ist sie auf einen Ort beschränkt oder auf mehrere, zweitens der Inhalt der Kooperation, also militärisch oder administrativ, judikativ oder exekutiv oder ökonomisch, und zum dritten diplomatische Kooperationen. Diese dritte Form spielte in Syrien keine große Rolle, aber durchaus in anderen Konflikten. So unterstützten sich im früheren Konflikt in Äthiopien verschiedene Gruppen gegenseitig im Ausland und warben füreinander oder in Myanmar schlossen sich verschiedene Gruppen zusammen, um mit der Regierung zu verhandeln.

Anhand dieser Klassifikation entwickelte Regine Schwab im nächsten Schritt eine Typologie, um in einem Multiakteurskonflikt verschiedene Beziehungstypen herauszuarbeiten.: 1. Alignment als sehr beschränkte zeitliche, inhaltliche und örtliche Kooperation, 2. Allianz als militärische Kooperation, die lokal nicht begrenzt ist, und 3. Partnerschaft als die engste Form von Beziehung, die an verschiedenen Orten in verschiedenen Bereichen stattfindet.

Der Alignment-Typ ist am weitesten verbreitet, da diese Beziehungsform am niedrigschwelligsten ist und deshalb sogar unter verfeindeten Gruppen vorkommt oder bei Gruppen, die für sehr unterschiedliche Ziele kämpfen. So gingen zum Beispiel die Kurden, denen es in erster Linie um Autonomie für ihr Gebiet ging, durchaus auch kurzfristige Kooperationen mit Gruppen ein, die die Regierung stürzen wollten.

Hilfreiche Typologie

Diese Typologie hilft, die Interaktionsmuster in bewaffneten Konflikten zu verstehen und ist auch für internationale Friedensbemühungen interessant. Gerade in Konflikten mit militanten islamistischen Gruppen wie z. B. in Mali, Afghanistan, Libyen und im Jemen besteht oft der verständliche Wunsch, moderate Gruppen zu unterstützen, in der Hoffnung, dass diese den Kampf gegen militante Gruppierungen aufnehmen und sich langfristig durchsetzen. Diese moderaten Gruppen kooperieren aber in manchen Bereichen mit den radikalen Gruppen. Und hier ist der Beziehungsgrad unter Umständen entscheidend. Wie eng verflochten sind die Gruppen? Wenn es Partnerschaften sind, sind sie mitunter kaum klar zu trennen und Versuche, moderatere Gruppen zu unterstützen und als Partner aufzubauen, sind zum Scheitern verurteilt, auch wenn die ideologische Zielsetzung klar voneinander abweicht. Dann ist eine Trennung kaum möglich. Oder ist es „nur“ ein alignment oder ein kurzfristiges, vielleicht militärisches Bündnis, das nicht lange Bestand haben wird? Dann können eine Unterstützung und Kooperation sinnvoll sein.

Infobox

Der Preis

Der Christiane-Rajewsky-Preis wird jährlich von der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. (AFK) für einen herausragenden Beitrag in der Frieden- und Konfliktforschung vergeben. Ausgezeichnet werden jeweils eine Masterarbeit und eine Dissertation.