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Review

PRIF Jahresbericht 2023Aufarbeiten – nicht abarbeiten

Postkoloniale Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur

Aufarbeiten – nicht abarbeiten

Beninbronzen an der Wand im British Museum.
Foto: Smuconlaw via Wikimedia Commons

Entschuldigung – ja, Entschädigung – nein, Restitution geraubter Kulturgüter – jein, mehr Entwicklungshilfe – ja, Reparationen – auf keinen Fall: Die Beziehungen zu ehemaligen Kolonien gestalten sich schwierig. Wo hakt es in den Debatten, und warum ist es wichtig, die koloniale Vergangenheit erinnerungskulturell zu verarbeiten? Damit befasst sich das Forschungsprojekt „Evils of a Global Past: Postkoloniales Genozid-Erinnern und glokal verflochtene Aussöhnungspolitik“ unter Leitung von Sabine Mannitz, das 2023 mit mehreren Publikationen und Veranstaltungen vorangeschritten ist.

Im Jahr 2022 wurden mehr als 1000 Benin-Bronzen aus rund 20 deutschen Museen an Nigeria zurückgegeben. Etwa 5000 solcher Bronzen waren 1897 von der britischen Kolonialmacht aus dem Königspalast im Königreich Benin im heutigen Nigeria geraubt und über 1000 davon an deutsche Museen verkauft worden. Seit den 1970er Jahren forderte Nigeria die Rückgabe der geraubten Kulturgüter. Ein „längst überfälliger Schritt“ betonte Außenministerin Baerbock, die 2022 mit zwei der Bronzen im Gepäck zu diesem Zweck nach Nigeria reiste.

Kolonialität darf nicht als zeitlich abgeschlossen (miss)verstanden werden: Die Unabgeschlossenheit der Kolonialgeschichte, das Nachwirken kolonialer Verhältnisse in globalen Machtkonstellationen und Formen der Wissensproduktion, in Meta-Erzählungen zur Geschichte der Welt und bestehenden Ungleichheiten sind Faktoren, die Präsenz haben und Wirkung entfalten.

Sabine Mannitz

Die Eigentumsrechte an der Beutekunst, die mittlerweile zum Weltkulturerbe gehört und auf über 20 deutsche Museen verteilt ist, sollten auf Nigeria übergehen. Zugleich hat Deutschland den Bau des Edo Museums of West African Art in Nigeria unterstützt, auch mit finanziellen Zusagen, in der Erwartung, dass die Bronzen dort öffentlich zugänglich gemacht würden. Doch der nigerianische Präsident Buhari übertrug dem König von Benin, Oberhaupt des einstigen Königreichs im heutigen Nigeria, das Eigentum. Obwohl der König Pläne für ein Palastmuseum geäußert hatte, schlugen die Wellen der Empörung unter einigen deutschen Politiker*innen hoch. Die CSU-Abgeordnete Dorothee Bär warf der Regierung Versagen vor, da sie bei der Rückgabe nicht darauf bestanden habe, dass die Bronzen weiter öffentlich zugänglich seien und die Zusage von Leihgaben nicht stärker eingefordert habe. Was steckt hinter dieser Aufregung? Woher kommt die Gewissheit, man müsse die afrikanische Kunst vor den Afrikaner*innen schützen und könne selbst nach dem Eingeständnis des unrechtmäßigen Besitzes die Rückgabe noch an Forderungen knüpfen?

Die Beharrlichkeit der kolonialen Haltung lässt sich damit er klären, dass sie nie ernsthaft umfassend als solche aufgearbeitet wurde. Ein Streifzug durch Schulbücher, Literatur, historische und ethnologische Museen oder auch durch viele Städte mit einem forschenden Blick auf Straßennamen oder Denkmäler offenbart erinnerungskulturelle Traditionen einer Gesellschaft, die sich im Überlegenheitsnarrativ des globalen Nordens gut eingerichtet hat. Denkmuster, mit denen die rücksichtslos brutale, grausame Eroberung und Ausbeutung von Ländern und Menschen des globalen Südens legitimiert wurden, lösen sich nicht in Luft auf, sondern bleiben gefährlich, wenn sie nicht adressiert und delegitimiert werden.

Postkoloniale Perspektiven, die beschönigende und legitimierende Erzählungen dekonstruieren, haben eine wichtige Rolle: Sie können die lange Zeit verschwiegene Gewalt, die Denkmuster kolonialer Praxis und auch deren Kontinuitäten aufdecken, um ein Umdenken und letztlich eine andere Form des Umgangs anzuregen.

Sabine Mannitz

Dabei ist es sowohl innen- als auch außenpolitisch wichtig, die Dekolonisierung des Denkens voranzutreiben: Auf die Kontinuität rassistischer Gewalterfahrungen aufmerksam zu machen, dient der Anerkennung und Inklusion marginalisierter Teile der Gesellschaft und trägt zur Abwehr rechtsextremistischer Tendenzen bei. Deutungsmuster, die menschenfeindlicher Gewalt vorausgehen, müssen erkannt werden, um diese verhindern zu können. Außenpolitisch ist die Notwendigkeit der Aufarbeitung der kolonialen Gewaltgeschichte offensichtlich: Wie sonst kann die dringend notwendige sicherheits-, energie- und wirtschaftspolitische Zusammenarbeit auf Augenhöhe gelingen?

Eine künftige Zusammenarbeit mit dem rohstoffreichen Nigeria, mit seinen 210 Millionen Einwohner*innen die größte Demokratie Afrikas, ist politisch erwünscht. Die Restitution der Benin-Bronzen ist dafür ein erster wichtiger Schritt. Zur Schaffung guter Beziehungen gehört aber auch anzuerkennen, dass die Kolonialgeschichte einer umfassenden Aufarbeitung bedarf. Auch wenn Deutschland mit Nigeria keine direkte koloniale Geschichte verbindet, führt die hiesige Restitutionsdebatte vor Augen, wie viel eurozentrische Überheblichkeit noch am Werk ist. Die Ideologie von der Überlegenheit europäischer Länder, die seinerzeit die Eroberungshaltung legitimierte, wurde als Selbstverständnis der europäischen Moderne internalisiert und einer vermeintlichen Unfähigkeit afrikanischer Gesellschaften gegenübergestellt. Die Dekonstruktion dieser Geschichtserzählung hat hierzulande erst in der jüngeren Vergangenheit begonnen, und zwar vor allem infolge zunehmenden aktivistischen Drucks.

Mit dem Nachwirken kolonialer Verhältnisse in Formen der Wissensproduktion, Erzählungen zur Ordnung der Welt und den konkreten Beziehungen zwischen ehemaligen Tätern und Opfern der kolonialen Gewaltgeschichte befasst sich das Forschungsprojekt „Evils of a Global Past: Postkoloniales Genozid-Erinnern und glokal verflochtene Aussöhnungspolitik“, das Sabine Mannitz leitet. Gemeinsam mit Núrel Reitz und Rita Kopp erforscht sie unter anderem, wie Erinnerungskultur, rechtliche und politische Schritte zur Anerkennung von kolonialen Verbrechen genutzt werden können, um historisch-politisches Denken und Beziehungen zu dekolonisieren. (kha)

Weiterlesen

Mannitz, Sabine/ Kopp, Rita Theresa (2023): A Step Towards Justice: Canada Agrees to Compensate First Nations for Loss of Culture and Language, PRIF Blog, 31. Januar 2023.

Fuhrmann, Larissa-Diana/ Mannitz, Sabine (2023): Representations of Political Violence in Museological Spaces. Decolonial Strategies, Contested Memory and Transformative Potential, Boasblog, 19. Juli 2023.

Eine Frage an Sabine Mannitz

Sabine Mannitz

Dr. Sabine Mannitz leitet den Programmbereich „Glokale Verflechtungen“, ist Mitglied im PRIF-Vorstand und PI im Forschungszentrum „Transformations of Political Violence“ (TraCe). Sie forscht u. a. über Prozesse des Wandels politischer Kultur, soziale Identität und Erinnerungskultur(politik) und leitet das Forschungsprojekt „Evils of a Global Past: Postkoloniales Genozid-Erinnern und glokal verflochtene Aussöhnungspolitik“.

  1. Um politische Gewaltgeschichte aufzuarbeiten und eine Versöhnung in der Gesellschaft zu erreichen, wurden seit den 1990er Jahren vielfach Wahrheitskommissionen eingesetzt. Auch in Kanada wurde 2008 eine Kommission gebildet, um koloniale Verbrechen an der indigenen Bevölkerung aufzuarbeiten. Wie sinnvoll ist das, was bringt das? Und was sind die Fallstricke?

    Sabine Mannitz: Die Frage, was so eine Institution bringt, versuchen wir in unserem Projekt empirisch zu erforschen, und Kanada ist eins der Länder, die wir genauer unter die Lupe nehmen. Vorher sind Wahrheitskommissionen eher als Institutionen nach Bürgerkriegen oder Regimewechseln eingesetzt worden, um den Übergang zu gestalten – sie standen im Kontext von „transitional justice“. Kanada ist der erste Fall, in dem so eine Kommission eingesetzt wurde, um einen Teil der Gewaltgeschichte des Siedlerkolonialstaats aufzuarbeiten. Konkret ging es bei dem Mandat um das sogenannte „Indian Residential School“-System, also Internatsschulen, in die indigene Kinder gezwungen wurden. Bei der Gründung der Kanadischen Konföderation Mitte des 19. Jahrhunderts hat die Regierung verschiedene Kirchen damit beauftragt, diese Schulen zu führen. Die Christianisierung, räumliche Trennung und kulturelle Entfremdung der Kinder von ihren Herkunftsfamilien und -gemeinschaften waren ausdrücklich Programm, als „Zivilisierung“ legitimiert. Herkunftssprachen waren unter Strafe verboten und für minderwertig erklärt, in vielen Einrichtungen wurden die Kinder ausgebeutet, körperlich und psychisch misshandelt, es gab sexuelle Gewalt und eine sehr hohe Sterblichkeit. Die Christianisierung, räumliche Trennung und kulturelle Entfremdung der Kinder von ihren Herkunftsfamilien und -gemeinschaften waren ausdrücklich Programm, als „Zivilisierung“ legitimiert. Herkunftssprachen waren unter Strafe verboten und für minderwertig erklärt, in vielen Einrichtungen wurden die Kinder ausgebeutet, körperlich und psychisch misshandelt, es gab sexuelle Gewalt und eine sehr hohe Sterblichkeit.

    Diese Zustände waren schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts immer wieder Gegenstand staatlicher Berichterstattung, aber die Rechts- und Machtverhältnisse im Land waren schlicht so, dass Kommissionsberichte einfach ins Archiv gestellt werden konnten, ohne dass irgendetwas aus ihnen folgte. Es hat bis in die 1990er Jahre gedauert, ehe das brutale Assimilationssystem an eine breitere Öffentlichkeit und vor Gerichtshöfe kam. Auch die Truth and Reconciliation Commission of Canada (TRCC) ist aus einer Sammelklage entstanden. Die TRCC hat dann zwischen 2008 und 2015 Tausende Überlebende befragt und einen umfangreichen Bericht vorgelegt, der feststellt, dass es sich bei der Politik gegenüber den Indigenen um einen kulturellen Genozid gehandelt hat. Zusammen mit dem Bericht wurden an die hundert „Calls to Action“ veröffentlicht, Handlungsempfehlungen an Politik und Gesellschaft. Die Interviews mit Überlebenden, einschlägige Dokumente, Rechercheergebnisse usw. werden in einem zentralen nationalen Archiv bewahrt, um weitere Aufarbeitung zu ermöglichen. Wenn es um die Wirkung der Wahrheitskommission geht, muss man verschiedene Ebenen unterscheiden, würde ich sagen: Für die Überlebenden und nachfolgende Generationen ist die öffentliche Unrechtsfeststellung als solche ungeheuer wichtig – also die Wahrheitsdimension. Es ist nicht zu unterschätzen, dass die „Zivilisierungsmission“ als Verbrechen eingestuft ist. Das ändert jedoch nichts daran, dass Sprachen und Wissen verlorengegangen sind oder Generationen von Indigenen mit der Ideologie aufgewachsen sind, sie und ihre Kulturen seien minderwertig – um nur zwei anhaltende Folgen zu nennen.

    Das ist insgesamt eine Ambivalenz, die sich durchzieht: Es hat nach dem TRCC-Report offizielle Entschuldigungen gegeben, es wurde ein nationaler Versöhnungstag geschaffen, von den Handlungsempfehlungen wurden einige politisch aufgegriffen. Aber das Versöhnungsanliegen geht ja von der Täterseite aus. Um Beziehungen zu gestalten, die nicht nach dem Motto gedacht werden, man sei quitt, sobald eine Entschuldigung ausgesprochen wurde, braucht es sehr viele sehr kleinteilige gesellschaftliche und politische Prozesse. Insofern kann der Abschlussbericht einer Wahrheitskommission viel bewirken, aber eben nicht als Abschluss, sondern als Impuls zur Veränderung von Beziehungen. Das muss dann aber auch an vielen Stellen so begriffen und aufgegriffen werden.