Radikalisierung im Online-Bereich
Polykrisen, Polarisierungsdynamiken und Radikalisierungstendenzen gehen Hand in Hand. Egal ob Covid-19 Pandemie, der Ukraine-Krieg oder der Krieg in Gaza – extremistische Akteure greifen jene Themen auf und instrumentalisieren sie. Gesellschaftspolitische Ereignisse werden in propagandistischem Material aufgearbeitet und verstärken so Radikalisierungsdynamiken. Virtuelle Welten nehmen hier eine zunehmend starke Rolle ein, da sich Konnektivität und Reichweite durch das Netz 2.0 potenzieren. Online-Radikalisierung ist einer der Bereiche innerhalb der Radikalisierungsforschung am PRIF, die 2023 durch den Start der Projekte VORTEX und RadiGaMe weiter ausgebaut worden ist.
Heutzutage ist hinlänglich bekannt, dass extremistische Propaganda über das Internet verbreitet wird. Dennoch ist die Rolle digitaler Medien in Radikalisierungsprozessen weiterhin umstritten. Einige Forschende sind der Auffassung, dass eine rein virtuelle Radikalisierung ohne analoge Kontakte und Interaktionen mit anderen radikalisierten Individuen nicht möglich ist. Andere wiederum betrachten den virtuellen Raum als möglichen Katalysator, der Radikalisierungsprozesse anstoßen, unterstützen und vertiefen kann. In der Regel gehen Forschende davon aus, dass ein Wechselspiel zwischen analogen und digitalen Räumen entscheidend ist für die Einflussnahme extremistischer Akteur/*innen auf Individuen, die sich radikalisieren.
Forschung zu Radikalisierung und sozialem Zusammenhalt
Radikalisierung und sozialer Zusammenhalt ist einer der Querschnittsbereiche der Forschung am PRIF. Das Institut ist mit den Projekten KURI und RADIS schon an mehreren Forschungsverbünden im Bereich Radikalisierungsforschung beteiligt. Zusätzlich sind im Jahr 2023 die Projekte VORTEX (Coping with Varieties of Radicalization into Terrorism and Extremism) und RadiGaMe (Radikalisierung auf Gaming- und gamingnahen Plattformen und Messenger-Diensten) gestartet.
Eine strikte Trennung von Online- und Offlinewelt ist der heutigen Zeit nicht mehr angemessen. Viele Menschen sind ständig online, beide Welten sind unweigerlich verschränkt und interagieren miteinander. Diese ständige Präsenz in der virtuellen Welt kann dazu beitragen, dass Radikalisierungsprozesse beschleunigt werden. Nutzer*innen können in digitalen Räumen fortlaufend mit Gleichgesinnten im Austausch sein und sich ausschließlich in solchen virtuellen Welten aufhalten, in denen extremistische Propaganda verbreitet und extremistische Weltanschauungen normalisiert werden. Virtuelle Spiele und angrenzende Kommunikationsplattformen haben hier einen noch immersiveren Charakter, da diese durch ein gemeinsames Erleben und diverse Identifikationsfaktoren ein weiteres Verschmelzen zwischen realer und virtueller Welt zur Folge haben können. Online-Games ermöglichen es, Communities zu formen, die Charakteristika aufweisen, die über das Entertainment der Spiele hinausgehen. In ihnen werden Ideen und Inspirationen ausgetauscht, sie bilden komplexe Sozialräume, in denen nicht nur über die Spiele, sondern auch über Kultur, Politik und gesellschaftliche Themen gesprochen wird.
Doch wie werden Videospiele und angrenzende digitale Kommunikationskanäle von radikalisierten Akteuren genutzt, um Individuen zu beeinflussen? Das Spektrum extremistischer Einflussnahme ist breit. So können die Entwicklung eigener Videospiele, die Modifizierung bereits existierender Videospiele und Propaganda-Material mit Bezügen zur Gaming-Kultur von radikalisierten Personen und Gruppen genutzt werden, um extremistische Agenden zu transportieren. Zusätzlich werden gamingnahe Kommunikationsplattformen genutzt, um Hass und Hetze zu transportieren. Genau hier setzt das PRIF-Teilvorhaben im RadiGaMe-Verbund an. (lwi)
Interview mit Linda Schlegel und Julian Junk
Prof. Dr. Julian Junk ist Leiter der Forschungsgruppe „Radikalisierung“. Gemeinsam mit Linda Schlegel leitet er das Forschungsprojekt RadiGaMe.
Linda Schlegel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Programmbereich „Transnationale Politik“ und in der Forschungsgruppe „Radikalisierung“. Gemeinsam mit Julian Junk leitet sie das Forschungsprojekt RadiGaMe.
Bisher ist das RadiGaMe-Projekt ein Novum. Wie kam es zu dem Projekt?
Julian Junk: Im Nachgang des Anschlags in Halle kam es zu einigen öffentlichen Äußerungen, u. a. vom damaligen Bundesinnenminister Seehofer, dass man auch die Gaming-Szene stärker in den Blick nehmen müsste. Kurz zuvor schlossen wir das sehr spannende Forschungsprojekt PANDORA zur Verbindung von On- und Offline-Radikalisierung und gegenseitigen Bezugnahmen von rechtsextremistischen und salafistisch-dschihadistischen Milieus ab. In diesem Projekt analysierten wir vorwiegend Kommunikation auf Messengerdiensten wie Telegram. Wir stellten uns aber schon damals die Frage, ob und wie sich Kommunikationsmuster, Zugänge und Handlungsmöglichkeiten für extremistische Akteure wie auch Grenzen und Chancen von Prävention im schnell wachsenden Bereich der Kommunikation rund um den Gaming-Bereich von denen in anderen sozialen Medien unterscheiden. Unter Koordination der Projektpartner von der TU Berlin haben wir also aus wissenschaftlichen Bedarfen, aber auch in Reaktion auf einen gesellschaftspolitischen Diskurs den RadiGaMe-Verbund entwickelt.
Warum ist es wichtig, gerade virtuelle Gaming-Räume auf extremistische Einflussnahmen zu untersuchen? Was sind die Ziele von RadiGaMe?
Linda Schlegel: Wir wissen, dass extremistische Akteure digitale Gaming-Räume auf vielfältige Art und Weise nutzen. Dazu gehört nicht nur die Erstellung von Videospielen, sondern auch die Nutzung von Gaming- und gamingnahen Plattformen wie Steam, Discord oder Twitch und der Versuch, Gamerinnen und Gamer in Chaträumen anzusprechen und propagandistische Inhalte zu verbreiten. Es handelt sich hierbei allerdings um ein sehr junges Forschungsfeld, das vielfach auf Pilotstudien und Zufallsbefunden beruht. Es existieren nur sehr wenige Studien, die extremistische Aktivitäten und Radikalisierungsprozesse in Gaming-Räumen systematisch untersuchen. Diese Forschungslücke versucht RadiGaMe zu adressieren. Wir widmen uns dem gesamten Spektrum an möglichen extremistischen Aktivitäten auf Gaming- und gamingnahen Plattformen und analysieren hierfür Radikalisierungsprozesse, Gruppendynamiken, die Verbreitung strafrechtlich relevanter Inhalte sowie Möglichkeiten für die Präventionsarbeit. Ziel ist es, ein tieferes Verständnis für Radikalisierungsprozesse und ihre Ausprägungen in digitalen Gaming-Räumen zu erhalten, um in der Zukunft sich radikalisierende Nutzerinnen und Nutzer gezielter zu identifizieren und ggf. Akteuren der Extremismusprävention zuführen zu können.
Welche Herausforderungen existieren für die Forschung?
Julian Junk: Da gibt es eine ganze Menge: Welche Daten sind überhaupt zugänglich, welche datenschutz- und forschungsethischen Grenzen müssen wir dabei beachten? Das Mapping dieser Chancen und Grenzen für Wissenschaft, aber eben auch für die Fachpraxis in der Prävention bis hin zu Eingriffsgrenzen für Strafverfolgung und Sicherheitsbehörden sind Neuland in diesem Bereich. RadiGaMe verknüpft dazu verschiedene Disziplinen und auch Wissenschaft mit Praxiswissen. Große Projektverbünde können mühsam sein, aber sie sind auch essentiell, um genau solchen komplexen Wissensbedarfen begegnen zu können.
Gibt es bereits erste Explorationsergebnisse und was folgt nun?
Linda Schlegel: Wir haben in einem ersten Schritt 20 Gaming- und gamingnahe Plattformen exploriert und überprüft, ob und, wenn ja, welche extremistischen Inhalte sich finden lassen. Wir haben vor allem rechte, rechtsextreme, antisemitische, rassistische und frauenfeindliche Inhalte sowie Verschwörungserzählungen gefunden. Das ist wenig überraschend im Lichte des aktuellen Forschungsstandes zu extremistischen Aktivitäten auf diesen Plattformen, der sich auch in großen Teilen auf diese Art von Inhalten bezieht. Auch islamistische Inhalte sind auf einigen Plattformen präsent, allerdings oftmals versteckter als Inhalte aus dem rechten Spektrum. Im nächsten Schritt werden wir eine Handvoll dieser Plattformen einer tiefer greifenden Analyse unterziehen, um mögliche Radikalisierungsprozesse in diesen digitalen Räumen nachzeichnen zu können. Wir beginnen mit zwei sogenannten Mod-Foren, in denen Nutzerinnen und Nutzer von ihnen erstellte Modifikationen (sogenannte Mods) bekannter Videospiele hochladen und darüber diskutieren können. Außerdem planen wir im weiteren Verlauf des Projektes Roblox und Steam näher zu betrachten.
Neue Projekte in der Forschungsgruppe Radikalisierung
PRIF ist Teil des von der EU finanzierten Marie-Skłodowska-Curie-Promotionsnetzwerks VORTEX (Coping with Varieties of Radicalization into Terrorism and Extremism), das acht Partner (Universitäten und Forschungsinstitute) umfasst und zehn Doktorand*innen beschäftigt. Das übergeordnete Ziel von VORTEX ist die Entwicklung neuer, evidenzbasierter und innovativer Strategien, um Radikalisierung zu begegnen. Am PRIF sind zwei Doktorandinnen und ihr Betreuer Teil dieses Netzwerkes.
Das PRIF-Teilvorhaben von RadiGaMe ist in einen interdisziplinären Forschungsverbund eingebettet und untersucht Kommunikationsformen radikalisierter und radikalisierungsgefährdeter Individuen, sogenannte Modes-of-Interaction. Dabei exploriert es systematisch die Risiko-Vielfalt, die virtuelle Spielewelten radikalisierungsgefährdeten Individuen bieten und entwickelt darauf aufbauend Lösungsansätze für Strafverfolgung, Früherkennung sowie präventive Maßnahmen.