Regimewettbewerb wie im Kalten Krieg?
Spätestens seit Russlands Angriff auf die Ukraine kommt dem Verhältnis zwischen unterschiedlichen Regimen große öffentliche Aufmerksamkeit zu. Dabei konzentriert sich die Debatte häufig auf eine wahrgenommene Polarisierung zwischen westlichen Demokratien und mächtigen Autokratien, die miteinander teils in Konflikt geraten, mindestens aber in einem Wettbewerb zueinander stehen. Die neue PRIF-Forschungsgruppe „Regimewettbewerb“ nahm 2023 ihre Arbeit auf und widmete sich diesen Themen in der PRIF-Jahreskonferenz, einer Blogreihe und verschiedenen Publikationen.
Die Behauptung einer Polarisierung der Regime wie zu Zeiten des Kalten Krieges hält einer näheren Betrachtung kaum stand. Regimewettbewerb spielt zwar in vielen Länderbeziehungen, Konflikten und außenpolitischen Entscheidungen eine Rolle. Diese Rolle ist aber unterschiedlich relevant und umfangreich.
Die Interaktionen zwischen Demokratien und Autokratien nehmen, je nach Ländern oder Themen, sehr unterschiedliche Formen an. Die Beziehungen sind nicht zwangsläufig antagonistisch, ganz zu schweigen von den Ländern, deren politische Regime sich nicht so einfach einer der beiden Kategorien zuordnen lassen.
Um ein differenzierteres Verständnis dieser politischen Dynamiken zu entwickeln, konstituierte sich 2023 die PRIF-Forschungsgruppe „Regimewettbewerb“. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die Kernannahmen hinter der Vorstellung eines Wettbewerbs zwischen verschiedenen Regimetypen zu hinterfragen, indem sie vorhandenes Wissen über das Verhalten und die Leistung unterschiedlicher politischer Regime zusammenführt und überprüft. Darüber hinaus möchte sie mit empirischen Studien zur politischen Dynamik des Regimewettbewerbs zeigen, wie die globale Ordnung sowie die Außen- und Innenpolitik von Drittstaaten durch Varianten von (wahrgenommenem) Regimewettbewerb beeinflusst werden. Ihre Ergebnisse zu diesen Fragen sollen dabei nicht nur von akademischem Wert sein, sondern Politikempfehlungen begründen, wie die deutsche und europäische Außen- und Entwicklungspolitik mit der zunehmenden Regimevielfalt umgehen kann und sollte.
Ein erster Höhepunkt ihrer Arbeit war die Organisation der PRIF-Jahreskonferenz 2023 mit dem Titel „Dealing with Autocracies in a Fragmented World“. Vier international besetzte Panels setzten jeweils einen gezielten Fokus auf eine Art der Interaktion, einen bestimmten Themenbereich und eine Weltregion: auf den Umgang mit China in der internationalen Entwicklungs- und Infrastrukturpolitik, den Umgang der EU mit Autokratien in der MENA-Region zu Fragen der Klima- und Energiepolitik, auf Demokratieförderung in der MENA-Region und Subsahara-Afrika sowie auf den sicherheitspolitischen Umgang mit Russland in Europa und auf globaler Ebene.
In diesem Rahmen diskutierten die Panels aus empirischer und normativer Perspektive, wie Demokratien mit Autokratien in der sich herausbildenden multipolaren Welt umgehen können und sollten. Sie hinterfragten, inwieweit allgemeine Normen wie „do no harm“ oder die Ausrichtung der Außenpolitik auf demokratische Werte in verschiedenen Interaktionsformen von Bedeutung sind, angefangen bei Kooperation und Koexistenz bis hin zu Wettbewerb, Distanzierung und sogar offenem Konflikt. Neben diesen praktischen Herausforderungen des „Umgangs mit Autokratien“ versuchte die Konferenz eine wissenschaftliche Bewertung, wie stark Regimetypen tatsächlich in den jeweiligen Interaktionen eine Rolle spielen. Und sie plädierte für einen Mittelweg, der weder einer Blockkonfrontation im Stil des Kalten Krieges das Wort redet, noch die Relevanz politischer Regime als Faktor internationaler Politik vernachlässigt.
Deutlich wurde, dass noch sehr viel mehr Forschung wünschenswert ist, um der Komplexität der verschiedenen Interaktionen und ihren Auswirkungen gerecht zu werden.
Wie hochaktuell und drängend die besprochenen Fragen sowohl für die Wissenschaft als auch für die Praxis sind, zeigte nicht nur die prominente Besetzung der Panels mit internationalen Gästen vorwiegend aus der Wissenschaft. Auch die vielen Besucher*innen der Konferenz aus der Praxis, z. B. Vertreter*innen von Konsulaten oder NGOs, die mit den Forscher*innen diskutierten, zeugen von der Relevanz des Themas.
Demokratieförderung und die Konkurrenz der Regime
Das Politikfeld der Demokratieförderung setzt sich schon per Definition mit dem Wesen und dem Wandel politischer Regime auseinander. Die Frage nach dem Umgang mit Autokratien hat daher die Praxis und die Forschung der internationalen Demokratieförderung von Anfang an begleitet. Doch die wachsende internationale Rolle und Relevanz autokratischer Regierungen sowie der globale Trend demokratischer Erosion bzw. Autokratisierung verschaffen diesen alten Fragen neue Dimensionen und Formen.
In der Vergangenheit waren die EU und Deutschland in der Demokratieförderung zumeist die Akteure, die sich – mehr oder weniger ernsthaft – in anderen Ländern dafür engagierten, demokratischen Wandel voranzutreiben. Dies schloss und schließt die Förderung oppositioneller Gruppen und zivilgesellschaftlicher Organisationen im Ausland ein, im Namen universell verstandener Werte wie Demokratie und Menschenrechte. Wenn Regierungen darauf mit „NGO-Gesetzen“ reagierten, um die internationale Förderung von NGOs einzuschränken, traf dies auf deutscher und europäischer Seite auf scharfe Kritik: Der freie Zugang zivilgesellschaftlicher Organisationen zu nationalen wie internationalen Finanzressourcen sei Teil der menschenrechtlich garantierten Vereinigungsfreiheit, hieß es.
Doch das Blatt hat sich gewendet, und die EU und ihre Mitgliedsstaaten sehen sich mittlerweile selbst als Ziel internationaler Einflussnahme. Zunehmend wird in der europäischen Politik lebhaft darüber diskutiert, wie liberale Demokratien mit ausländischer Einmischung durch autoritäre Regierungen wie Russland oder China umgehen sollten.
Ausgelöst durch die russische Einflussnahme auf die US-Präsidentschaftswahlen 2016, das britische Brexit-Referendum, den Katar-Korruptionsskandal im Europäischen Parlament und den russischen Einmarsch in die Ukraine veröffentlichte die Europäische Kommission im Februar 2023 Pläne für ein „Paket zur Verteidigung der Demokratie“, um die „europäische Demokratie vor verdeckter ausländischer Einmischung“ zu schützen. (kha)
Interview mit Jonas Wolff
Prof. Dr. Jonas Wolff leitet den Programmbereich „Innerstaatliche Konflikte“, ist Mitglied im PRIF-Vorstand und Professor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Er beschäftigt sich seit Jahren mit internationaler Demokratieförderung.
Wird die EU illiberal bzw. muss sie es werden, um Einmischung, Beeinflussung von außen abzuwehren? Wird ihr die freiheitliche Gesetzgebung und ihre Liberalität zum Verhängnis?
So pauschal würde ich das auf keinen Fall formulieren. Aber abgesehen davon, dass es innerhalb der EU stärker werdende Kräfte gibt, die eine Agenda verfolgen, die man als illiberal bezeichnen kann: Auch die deutsche Idee einer „wehrhaften Demokratie“ impliziert letztlich, dass liberale Demokratien mitunter zu illiberalen Mitteln – wie etwa dem Parteiverbot – greifen und greifen müssen, um sich vor ihren Feinden zu schützen. Dies wird auf Ebene der EU gegenwärtig sehr analog mit Blick auf die Frage der „ausländischen Einmischung“ durch autokratische Regierungen wie Russland oder China diskutiert. Ein Zielkonflikt ist dabei offensichtlich: Kontrolliert man systematisch Formen etwa der finanziellen Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Akteuren oder Medienorganen in der EU, um „bösartige“, wie es heißt, Einflussnahme unterbinden zu können, muss man letztlich alle Formen finanzieller Unterstützung in den Blick nehmen. Sonst lassen sich die gegen die Grundlagen der Demokratie gerichteten Unterstützungsversuche nicht identifizieren. Dies setzt nicht nur alle extern finanzierten Organisationen einem Anfangsverdacht aus, sondern etabliert eben allgemeine Kontrollen und damit potenziell Einschränkungen zivilgesellschaftlicher Finanzierung. Ein zweiter Zielkonflikt, der auf EU-Ebene allzu wenig diskutiert wird, betrifft den Widerspruch zwischen einer EU, die sich mit Kontrollen, Transparenzvorschriften und Einschränkungen gegen „ausländische Einflussnahme“ zur Wehr zu setzen sucht, und der gleichen EU, die sich in ihrer Außen- und Entwicklungspolitik das Recht herausnimmt, etwa lokale zivilgesellschaftliche Akteure in anderen Staaten nach eigenem Belieben und auch an den Regierungen vorbei zu unterstützen.
Müssen sich liberale Demokratien anpassen, um Bedrohungen abzuwehren? Und ist so eine Verwischung von liberalen und illiberalen Praktiken nicht gefährlich?
Meine allgemeine Antwort wäre, dass liberale Demokratien in Rein- oder Idealform nicht existieren und vermutlich auch nicht existieren können. Dafür ist die liberale Demokratie ein zu widersprüchliches Gebilde, zumal in kapitalistischen Gesellschaften und einer globalisierten Weltwirtschaft. Alle politischen Systeme, die wir als liberal-demokratisch bezeichnen, weisen insofern auch illiberale, autoritäre bzw. zumindest nicht-demokratische Elemente auf. Das mag man beklagen, aber es ist zunächst wichtig, das anzuerkennen. Konkreter ist es wohl so, dass die real-existierenden liberalen Demokratien in unseren Breitengraden aktuell neuen oder sich zumindest zuspitzenden Bedrohungen von innen und außen ausgesetzt sind. Was die angemessenen Antworten auf diese Bedrohungen sind, wird gegenwärtig gesellschaftspolitisch ausgehandelt, und dabei kommen unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie und Freiheit sowie auch divergierende Bedrohungswahrnehmungen zusammen. Was mir in diesem Zusammenhang wichtig schiene, wäre erstens, dass jegliche potenziell illiberale Antwort auf Bedrohungen der liberalen Demokratie vorab systematisch auf ihre etwa menschenrechtlichen Implikationen und allgemein auf ihre Notwendigkeit, Zielgerichtetheit und Angemessenheit geprüft wird. Zweitens gibt es die meiner Ansicht nach gut begründete Forderung, solche Maßnahmen grundsätzlich befristet und mit Pflicht zur gewissenhaften, unabhängigen Evaluierung zu versehen. Drittens ist es gerade unter den gegenwärtigen, weltpolitischen Bedingungen zentral, hier keine neuen Doppelstandards zu schaffen. Das hieße für das diskutierte Beispiel: Die EU sollte nur solche Regelungen gegen „ausländische Einmischung“ erlassen, die sie auch bei anderen Staaten begrüßen und unterstützen würde.
Wie ist es zu dieser Verschiebung der Wahrnehmung gekommen? Hat die Welt sich so stark verändert?
Die Welt hat sich offensichtlich verändert – und verändert sich weiter. Noch vor wenigen Jahren war „ausländische Einmischung“ fast ausschließlich ein Vorwurf, den nicht-westliche Staaten erhoben. Gerichtet war dies in der Regel gegen westliche Staaten und deren Anspruch, in anderen Ländern Demokratie, Menschenrechte und Zivilgesellschaft zu fördern. Unter diesen extrem asymmetrischen Bedingungen konnten westliche Regierungen einigermaßen wohlfeil etwa die Position vertreten, dass der unbeschränkte Zugang zivilgesellschaftlicher Organisationen zu finanziellen Ressourcen aus dem Ausland Kernbestandteil der international anerkannten Versammlungsfreiheit sei. Heute sieht das die EU ganz offensichtlich anders. Wenn man das Problem ernst nimmt, geht es also darum, nationale und internationale Normen neu auszuhandeln, die eine noch immer nicht schlicht symmetrische, aber doch wechselseitige Einmischungspraxis in vernünftigem Ausmaß ermöglichen und zugleich angemessen einhegen.
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Harth, Lukas/Kriener, Florian/Wolff, Jonas: The EU Response to Foreign Interference, in: Heidelberg Journal of International Law (HJIL)/Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV), 83(2), 197–207, 2023. DOI: 10.17104/0044-2348-2023-2-1.
Forschungsgruppe Regimewettbewerb
Die Forschungsgruppe „Regimewettbewerb“ wird koordiniert von Dr. Irene Weipert-Fenner und Dr. Pascal Abb. Sie setzt sich aus insgesamt elf wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen verschiedener Programmbereichen des PRIF zusammen.