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Review

PRIF Jahresbericht 2022Gerechtigkeit, Macht, Protest

Reformkonflikte in Ägypten und Tunesien

Gerechtigkeit, Macht, Protest

stilisiertes Bild von protestierenden Menschen. auf einem Schild steht Game Over.
Foto: scossargilbert via flickr (bearbeitet), CC BY 2.0.

Sozioökonomische Proteste gehörten zu den zentralen Treibern für die Proteste und Revolutionen des „Arabischen Frühlings“. Doch auch nachdem verschiedene Diktatoren gestürzt wurden, verbesserte sich die Lage für die meisten Menschen nicht. Reformen, die die neuen Regierungen angingen, stießen oft auf heftige Gegenwehr. Irene Weipert-Fenner hat dazu im Projekt „Streit um sozioökonomische Reformen“ geforscht, das 2022 abgeschlossen wurde. Damit fand eine achtjährige Kooperation zwischen Nordafrika- und Lateinamerika-Expert*innen aus Ägypten, Deutschland und Tunesien ihren Abschluss.

Im Gespräch mit Irene Weipert-Fenner

Das 2022 abgeschlossene Forschungsprojekt hat Konflikte um sozioökonomische Reformen analysiert, die in Ägypten und Tunesien in den letzten Jahren ausgetragen wurden, teils mit heftigen Auseinandersetzungen. Worum wurde gestritten?

Die Konflikte, die wir untersucht haben, drehten sich z.B. um Steuern, um Subventionen oder um Arbeitsrecht. Es war uns wichtig auf Konflikte zu schauen, bei denen es wirklich um etwas geht, um Geld und Macht. Wem wird etwas gegeben, wem wird etwas weggenommen? Wir konnten beobachten, wie verschiedene Akteure versuchen, sich zu positionieren und ihren Anteil zu sichern bzw. zu verteidigen.

Tunesien war im Untersuchungszeitraum noch relativ demokratisch und frei, dort spielten öffentliche Proteste eine größere Rolle. Die Fallstudien zu Ägypten zeigen eher Konflikte, die sich hinter den Kulissen abspielen.

Welche Akteure waren in den beiden Ländern zentral und welchen Einfluss konnten sie auf die jeweilige politische Ordnung nehmen?

Die Herrschaftselite ist sowohl im damals demokratischen Tunesien als auch im autokratischen Ägypten nur ein Akteur unter vielen. In beiden Ländern sind Wirtschaftseliten stark beteiligt, aber auch Gewerkschaften.

In Tunesien spielen Gewerkschaften eine zentrale Rolle, der Gewerkschaftsdachverband hat wirkliche Vetomacht. Dies zeigte sich 2019, als er es schaffte mit einem Generalstreik die Erhöhung von Gehältern im öffentlichen Sektor durchzusetzen. Damit hatte er nicht nur innerhalb der tunesischen Arena gewonnen, sondern sich auch gegen den IWF durchgesetzt, der die Regierung damals mit Forderungen nach Kürzungen im öffentlichen Sektor stark unter Druck gesetzt hatte. Im Unterschied dazu konnten Proteste 2018, hinter denen kein starker Akteur stand, die Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht verhindern.

Interessanterweise spielen Gewerkschaften aber auch in Ägypten eine Rolle. Das hat unsere Fallstudie zur Diskussion eines neuen Arbeitsgesetzes gezeigt. Die unabhängigen Gewerkschaften sind in Ägypten seit der Revolution politisch marginalisiert. Trotzdem hatte es ein Dachverband geschafft, bei diesem Prozess dabei zu sein. Das ist natürlich nicht so leicht zu bewerten: Ging es wirklich darum, gemeinsam bessere Entscheidungen zu treffen, oder vielleicht auch nur darum, die Arbeiterschaft ruhigzustellen, die Arbeiterbewegung weiter zu spalten – oder wollte das Sisi-Regime ein Gegengewicht zu den einflussreichen Wirtschaftseliten? Im Endeffekt ist das neue Gesetz nicht zustande gekommen, die Interessen der Wirtschaftseliten haben sich durchgesetzt – und interessanterweise nicht die des Sisi-Regimes.

Sie sind bereits auf die unterschiedlichen Regimetypen eingegangen. Welchen Einfluss hat denn der Regimetyp auf die Aussichten von Protestbewegungen? Und lassen sich sozioökonomische Reformen in Autokratien effizienter umsetzen?

Wir haben herausgefunden, dass der Regimetyp alleine nicht ausreicht, um zu erklären, ob Reformen durchgesetzt werden oder nicht. Wer mitreden und mitentscheiden darf oder sogar Vetomacht hat, geht vor allem auf die politökonomischen Machtverhältnisse zurück, die sich über Jahrzehnte hinweg herausgebildet haben. Generell sieht man, dass sich politökonomische Strukturen durch die Inkorporation bestimmter Gruppen und der Exklusion weiter Teile der Gesellschaft gut erklären lassen, Steffen Hertog spricht hier von Insidern und Outsidern. Bestimmte Gruppen, seien es Unternehmen oder Arbeitergruppen, haben gute Verbindungen zum Regime und sind „drinnen“. Andere wiederum sind ausgeschlossen. Die haben einfach einen geringeren Hebel, um sich zu wehren. Wenn die Belastung durch Reformen nicht so groß ist, dass sie einen bestimmten Schwellenwert übersteigt, dann werden die Kosten getragen – sowohl in der Demokratie als auch in der Autokratie. Allerdings ist es natürlich so, dass ein autokratisches Regime mit größerer Härte gegen die Outsider vorgehen kann. In Ägypten haben wir im Untersuchungszeitraum extrem hohe Repression beobachtet. In beiden Regimetypen schaffen es die Insider, im Konflikt ihre Interessen durchzusetzen, während die Outsider wenig Chancen haben, auch wenn die Möglichkeiten in Autokratien noch geringer sind.

Sie haben mit einem Team von Forscher*innen aus verschiedenen Ländern zusammengearbeitet. Wie können wir uns diese Kooperation vorstellen?

Ich finde die Kooperation mit Kolleg*innen vor Ort zentral. Nach wie vor dominiert die problematische Struktur in der Wissensproduktion, dass die vergleichende Perspektive meist aus Europa oder den USA kommt und die Expert*innen aus unterschiedlichen Ländern zu ihren Ländern schreiben. Das Interessante an unserem Projekt ist, dass wir mit drei Ländern beteiligt waren, ergänzt durch die Perspektive des interregionalen Vergleichs mit Lateinamerika, die der Kollege Jonas Wolff eingebracht hat. Durch das gemeinsame Vergleichen konnten wir unsere Perspektive erweitern. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Kooperation war die Förderung von wissenschaftlichem Nachwuchs. Wir hatten jeweils eine Doktorandin an den Partnerinstitutionen, konnten hier Gastaufenthalte ermöglichen, Trainings und Vernetzung in der Region und nach Europa fördern. Auch für uns hier war das ein großer Lernprozess. Wir haben beispielsweise über Methoden der Feldforschung diskutiert, allgemein Perspektiven aus dem globalen Süden hierher gebracht und die Internationalisierung des Instituts vorangetrieben.

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Mit Protestbewegungen beschäftigen Sie sich auch im Rahmen der Forschungsinitiative ConTrust. Dort untersuchen Sie gemeinsam mit Forscher*innen von PRIF und der Goethe-Universität Frankfurt, wie Vertrauen in Konflikten entstehen kann. Nun würde man vermutlich denken, dass Proteste eher ein Ausdruck von mangelndem Vertrauen sind. Ist das falsch?

Es ist ja unbestritten, dass Vertrauen ein zentrales Element des Zusammenlebens ist. Man denkt aber oft, dass Vertrauen dann da ist, wenn kein Konflikt stattfindet, und andersherum. Aus meiner Forschung im Hinblick auf soziale Bewegungen und Protest scheint mir das zu unterkomplex. Die Bewegungen, die den sogenannten „Arabischen Frühling“ ausgemacht haben, aber auch die zweite Welle der arabischen Aufstände, die 2019 im Irak, Libanon, Sudan, Algerien stattgefunden haben, das sind längere Prozesse, in denen verschiedene soziale Bewegungen interagieren. Da spielen Fragen von Koalition und Netzwerkbildung eine Rolle, unterschiedliche Beziehungen zu sozialen Akteuren, sehr viel Misstrauen gegenüber politischen Parteien – und trotzdem haben wir Mobilisierung. Um in autoritären Regimen zu protestieren, ist Vertrauen in andere Protestierende besonders wichtig, vor allem je länger protestiert wird, weil man immer sichtbarer wird und damit immer stärkeren Repressionen ausgesetzt sein könnte.

Die zweite Welle der arabischen Aufstände zeichnete sich aber dadurch aus, dass nicht nur über gesellschaftliche Konfliktlinien hinweg protestiert wurde, sondern explizit gegen sie. Es gab Forderungen, gerade im Libanon und im Irak, politische Systeme abzuschaffen, die auf einer Machtverteilung entlang ethno-religiöser Identitäten basierten. Das zu fordern, wenn man selbst in Abhängigkeit von diesen Netzwerken steht, ist erst einmal sehr stark, insbesondere wenn Gesellschaften tief gespalten sind und eine Geschichte gewaltsamen Konflikts haben. Woher kommen diese Forderungen und wann treten sie in Massenbewegungen eigentlich auf? Im Irak und im Libanon beispielsweise geschah das schon am Anfang der Protestbewegung. Das ist nicht immer nur rational zu erklären, in Revolutionen spielen immer auch Emotionen eine große Rolle. Hier ist interessant, was in diesem außergewöhnlichen Moment passiert und ob sich außergewöhnliches Vertrauen in der Revolutionsbewegung verstetigt. Und was passiert damit, wenn Revolutionen als gescheitert betrachtet werden?

stilisiertes Foto von Stadt mit alten Türmen und Hochhäusern
Foto: Omar Elsharawy/Unsplash, Unsplash License.

Eine letzte Frage: Womit werden Sie sich in Ihren nächsten Forschungsprojekten beschäftigen?

In Bezug auf Protestbewegungen ist es wichtig, nicht nur auf die revolutionäre Episode zu schauen, sondern zeitlich herauszuzoomen. Die Konfliktlinien, um die es geht, haben in der Regel eine lange Geschichte. So hat man beispielsweise 2019 gesehen, dass Protestakteure selbst explizit auf Protestgeschichte Rekurs genommen haben, indem sie gesagt haben: „Früher haben wir uns entlang einer ethnischen Konfliktlinie spalten lassen, das machen wir jetzt nicht mehr. Wir haben daraus gelernt.“ Und auch wenn Protestbewegungen unmittelbar scheitern, weil es ihnen z.B. nicht gelingt, ein bestimmtes Regime zu stürzen, setzen sie trotzdem Transformationsprozesse in Gang. Um diese Aspekte in den Blick zu bekommen, müssen wir die Proteste in ihre längere Geschichte einbetten. Zudem werde ich auch in Zukunft zu Konflikten um soziale Gerechtigkeit forschen. In Folge von Corona, aber auch des Russland-Ukraine-Kriegs hat sich die wirtschaftliche Lage in vielen Ländern dramatisch verschlechtert. Gleichzeitig haben wir auch gesehen, dass Diktaturen in Nordafrika und Westasien rehabilitiert wurden, weil man neue Energielieferanten brauchte. Hinzu kommen die Bemühungen, aufgrund des Klimawandels, auch grünen Wasserstoff aus diesen Ländern zu bekommen. Welche Auswirkungen hat das, bzw. welche Entwicklungspotenziale gäbe es vielleicht auch? Wie müsste deutsche und europäische Politik handeln, um nicht einfach neue extraktivistische Strukturen aufzubauen, sondern eine tatsächliche Transformation der politökonomischen Verhältnisse zu fördern? Daran arbeite ich zusammen mit Kolleg*innen von der Arab-German Young Academy.

Infobox

Themed Section mit Beiträgen aus dem Projekt

Die Ergebnisse des Projekts wurden 2023 in einer Themed Section in der Zeitschrift Mediterranean Politics zusammengefasst, die online first erschienen ist. Einführung:

Weipert-Fenner, Irene: Socioeconomic reforms in times of political transformation: Conflicts over the political economy in Egypt and Tunisia post-2011, in: Mediterranean Politics, 2023. DOI: 10.1080/13629395.2023.2207428.